21

December

UMSCHLAGPLATZ*

LAUFSCHRITT*

SCHWANZPARADE*

*Im Original deutsch

 
Ein sinnliches Stück, das gleichermaßen die Erinnerten wie die Erinnernden umfaßt. Es ist unverschämt, es ist aggressiv, es ist traurig, es ist verwirrend, es ist komisch. Und dann war da noch der Hund, der auf das Kommando „Ist vom Jud" das Würstchen fallen ließ.  Und der Zettel, dieser Zettel auf dem Tisch: ,,Der Honig ist bezahlt, die Bons sind abgeschnitten. Macht keine Dummheiten. Seid umarmt."  Und diese knarrenden Schuhe. Direkt vor dem Versteck.  Und das Problem, zwei Züge aus einer Zigarette auf sechs Menschen zu verteilen.  Und die Modenschau: ,,Du gehst wie ein Jude! Du darfst nicht wie ein Jude gehen, verstehst du."  Und wie sagte doch noch Leopold Kozlowski, der mit einer Kerze im Hintern auf dem Tisch tanzen mußte: ,,War schon komisch".  Und das Wachstuchheft, in das Arie Wilner seine Gedichte schrieb. 11 Rette mich. Ich liebe dich. Kannst du mich hören..."  Und das Karussell an der Ghettomauer, auf der arischen Seite: ,,Der Wind von den brennenden Häusern blies in die Kleider der Mädchen."  Und das Mädchen mit den Sumpfdotterblumen. Lächeln! Lächeln! Nicht nachlassen! Lächeln!  Und der Bunker in der Mila 18. ,,Alle waren sie dort. Wir waren so froh, noch beisammen zu sein, und Guta hatte Zigaretten der Marke Juno. Es war einer der besten Tage im Ghetto.  Und die letzten Worte von Schimon: ,,Ich liebe dich."
8. Mai 1943: Am zwanzigsten Tag des Warschauer Ghettoaufstandes entdeckten die Deutschen den zentralen Bunker der jüdischen Widerstandsbewegung ZOB in der Milastr.18. Sie besetzten alle Ausgänge und leiteten Giftgas hinein. In einer der letzten Meldungen der ZOB heißt es. "Angesichts der ausweglosen Lage hat Arie Wilner die Kämpfer aufgerufen, Selbstmord zu begehen, um den Deutschen nicht lebend in die Hände zu fallen." Arie Wilner, der gesagt hatte: ,,Wir wissen, daß niemand von uns lebendig hier heraus­ kommt. Wir wollen nicht unser Leben retten. Wir wollen die menschliche Würde retten." Er besaß ein braunes Wachstuchheft, in das er seine Gedichte schrieb: ,,Rette mich. Ich liebe dich. Kannst du mich hören ...". Arie Wilner war Kontaktmann der jüdischen Kampf­ organisation 208 zum polnischen Untergrund, und er versuchte, Waffen für das Ghetto zu beschaffen. Am 6. März 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und täglich gefoltert. Doch er verriet nichts.. Als er überzeugt war, die Qualen nicht länger aushalten zu können, schlich er sich in eine Gruppe ein, die erschossen werden sollte. Doch diese Gruppe wurde in ein Arbeitslager transportiert. Dort stöberte ihn sein Freund Henryk Grabowski auf. Er verhalf ihm zur Flucht, pflegte ihn gesund und wollte ihn verstecken. Aber Arie Wilner kehrte ins Ghetto zurück.
Als er am 8. Mai 1943 in der Mila 18 zum Selbstmord aufrief, folgte Lejb Rotblat als erster seinem Aufruf. Viermal schoß er auf seine Mutter Maria, die seit dem ersten Tag des Aufstandes am 19. April 1943 die Waisenkinder versorgte, dann erschoß er seine Frau Halina und sich selbst. Eine Frau schoß siebenmal auf sich. Sie hieß Ruth ("Sechs wertvolle Patronen, heißt es, sind meinetwegen verlorengegangen"). In dem Bunker fanden die meisten Mitglieder der Kampforganisation den Tod, unter ihnen der Kommandeur Mordechaj Anielewicz. "Sei mir gesund mein Teurer'', hatte er in einem Brief an seinen Freund lcchak Cukerman geschrieben, ''vielleicht sehen wir uns ja noch einmal wieder. Der Traum meines Lebens ist jedenfalls schon in Erfüllung gegangen, denn das Ghetto verteidigt sich. Wir Juden leisten mit der Waffe in der Hand Widerstand." Zur gleichen Zeit stand auf dem Krasinskiplatz auf der anderen Seite der Ghettomauer ein Mädchen, das einen Strauß Sumpfdotterblumen in der Hand hielt und lächelte. Es mußte lächeln, denn es durfte nicht auffallen. Adina Blady Szwajgier, so hieß das Mädchen, war seit drei Monaten auf der arischen Seite, um Geld, Waffen und Wohnungen zu besorgen. Vorher, im Ghetto, hatte sie im Krankenhaus gearbeitet. Als das Krankenhaus im September 1942 während der Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka von den Deutschen geräumt wurde, schaffte sie es, allen Kindern Gift zu geben. Jetzt, auf dem Krasinskiplatz, stand sie neben einem Karussell, das sich drehte und Musik spielte. "Der Wind von den brennenden Häusern blies in die Kleider der Mädchen", schrieb Czeslaw Milosz. "Und ich", sagte Adina Blady Szwajgier, "stand da mit meinem Strauß Sumpfdotterblumen und lächelte wie alle anderen". Von der anderen Seite der Mauer konnte sie Schüsse hören: Der Versuch, anders zu sterben, als es die Massenmörder wollten - nicht mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen, sondern mit erhobenem Kopf und offenen Augen, mit dem Willen, in Freiheit und Würde zu leben, wie Marek Edelman, einer der wenigen Überlebenden sagt.
Im Sommer 1942, als Adina Blady Szwajgier noch im Ghettokrankenhaus arbeitete und die jüdische Widerstandsbewegung noch keine einzige Schußwaffe besaß, stand Marek· Edelman während der Deportationen nach Treblinka sechs Wochen lang am Tor zum Umschlagplatz, von wo die Züge abfuhren. Er versuchte, Mitglieder der Widerstands­ bewegung aus den Kolonnen herauszuholen und vor der Deportation zu retten. In einer Kolonne war auch Pola Lifszyc. Sie hatte Glück. Sie wurde herausgeholt. Einen Tag später kam sie nach Hause. Ihre Mutter war fort. Pola Lifszyc erfuhr, daß ihre Mutter zum Umschlagplatz getrieben würde. Sie rannte hinterher, den ganzen Weg von der Leszno­ straße bis zur Stawkistraße. Ihr Verlobter fuhr sie noch ein Stück mit der Fahrradrikscha, damit sie es schaffte. Und sie schaffte es. Kurz vor dem Umschlagplatz holte sie die Kolonne ein. Sie mischte sich unter die Menge, sie stieg mit ihrer Mutter in den Waggon und fuhr mit ihr in die Gaskammer von Treblinka. Pola Lifszyc, Marek Edelman, Arie Wilner, Adina Blady Szwajgier, Lejb Rotblat, Noemi Szac­ Wajnkranc ..., Menschen, die dort, im Warschauer Ghetto lebten und deren Spuren die Marburger Theaterwerkstatt zu finden versucht hat. Enstanden sind bei dieser Spurensuche die szenische Lesung „Ghetto", die theatrale Aktion „Spurenlegung" und zuletzt das Stück ,,UMSCHLAGPLATZ*, LAUFSCHRITT*, SCHWANZPARADE * - * Im Original deutsch". Die Grundlage des Stückes ist die Erinnerung an einzelne Menschen. Es ist die Erinnerung an ihre Versuche, Subjekte der eigenen Geschichte zu bleiben. Und es ist die Erinnerung an die Würde dieser Menschen, die sich dem Ziel der Nazis widersetzten, die Juden bereits vor der Ermordung auf jenes entmenschlichte Niveau hinabzudrücken, das ihrem Bild von Untermenschen entsprach. Zwar sind alle Handlungen, Gesten, Entscheidungen, d.h. Lebensäußerungen auf den von den Deutschen produzierten Aus­ nahmezustand bezogen, dennoch wird versucht, wie es im Stück heißt, ,,nichts von den Nazis zu erzählen". Das gilt, auch wenn der Anfangstext und das Schlußlied von Männern stammen, die wie so viele in Polen eingefallene Hans, Franz, Fritz, Jürgen oder Kurt Photoalben anlegten, ihnen Titel gaben (Jürgen Stroop: "Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr"; Kurt Hubert Franz: ,,Schöne Zeiten") und ihre Weltsicht in Reimform pressten.
,,UMSCHLAGPLATZ*, LAUFSCHRITT*, SCHWANZPARADE * - * Im Original deutsch" ist nicht daran interessiert anzuklagen, ebensowenig daran, einen theatralischen Nachhilfeunterricht in Geschichte zu veranstalten. Und es hat nichts zu tun mit Schuldverarbeitung und der sogenannten "Pflicht zur Erinnerung." Die Inszenierung ist inspiriert von dem "Bedürfnis nach Erinnerung" und beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, dieses Bedürfnis, das gefärbt ist von der Trauer um die Menschen, zu gestalten. Dabei untergräbt sie konsequent den statistischen Seelenzustand, der über den Status der Juden als Opfer (in Zahlen ausdrückbar) nicht hinausgelangt. Bliebe noch zu sagen: Auch wenn dieser Artikel den 8. Mai zu Anlaß hat, ,,UMSCHLAGPLATZ*, LAUFSCHRITT*, SCHWANZPARADE * - * Im Original deutsch" ist gedenktagunabhängig. Rolf Michenfelder Regisseur und Schauspieler der Marburger Theaterwerkstatt Laudatio anlässlich der Preisverleihung des 4. Festival Politik im freien Theater der Bundeszentrale für politische Bildung, Stuttgart, November 1999
Es ist mir eine große Freude, die Laudatio für einen der Ensemblepreisträger halten zu dürfen. Der Preis geht an die Marburger Theaterwerkstatt. Seit 1983 arbeitet die Marburger Theaterwerkstatt kontinuierlich als experimentelles Ensemble, mit, wie sie selbst sagen, konzeptionellen und improvisatorischen Mitteln und haben hier auf dem Festival „Umschlag­ platz*, Laufschritt*, Schwanzparade* -*Im Original deutsch gezeigt. Ein Ensembleprojekt in der Inszenierung von Rolf Michenfelder, der gleichzeitig auch als Akteur auf der Bühne steht. Ausgangspunkt für diesen Abend war für die Marburger das 'Bedürfnis nach Erinnerung', nicht die Pflicht, sich zu erinnern. Ein Kollege aus der Jury sagte nach dem Besuch der Vorstellung: ,,Wir haben hier Men­ schen auf der Bühne gesehen". Das gehört wohl zum Wertvollsten, was über einen Theaterabend gesagt werden kann. Die Akteure erzählen fragmentarisch, angedeutet, gleichzeitig, manchmal vielstimmig, oft leise, immer respektvoll und wunderbar reduziert Bruchstücke von Geschichten aus dem Warschauer Ghetto, von Wider­ ständlern der jüdischen Untergrundarmee. Von Liebenden, denen es im Keller versteckt gelingt, sich die letzten Minuten vor ihrer sicheren Verhaftung nicht rauben zu lassen. Sie erzählen von Menschen, die sich ihrer ausweglosen Situation bewusst sind, sich ihre Hilflosigkeit und Verletzlichkeit eingestehen und dabei immer ihre Würde bewahren. Viele Bilder und Situationen bleiben in Erinnerung. Den Zuschauern wird an diesem Abend Raum und Zeit gegeben, sie mit eigenen Gedanken, Ängsten und Assoziationen zu verknüpfen. Ihre Beteiligung ist notwendig und wird eingefordert, dies aber niemals, und das ist wichtig, mit aufklärender, belehrender oder gar an­ klagender Intention. Zwei Schuhe auf dem Flügel, daneben liegend ein Mikrophon. Ein Spieler, der den Klangraum von Stiefeln schafft, die sich in einem Treppenhaus nähern und wieder entfernen. Brennende Kerzen in den nackten Hintern sich langsam drehender Schauspieler. Ein klaustrophobischer Schrankraum, in dessen qualvoller Enge zwei Männer flüsternd die nötige Menge Schlaftabletten an eine bittende Frau bereitwillig abtreten. Die Marburger zeigen bewusst nicht die Täter, nicht die Beziehung der Opfer zu ihren Tätern und umgekehrt. So müssen wir uns als Zuschauer beteiligen an den Gefühlen der Verfolgten, deren Angst und Entsetzen, die an diesem Abend meist durch seine Stille umso unerträglicher wird. Es sind die ewig langen Sekunden einer Minute der Angst, die bewusste Vorbereitung auf zu erwartende Demütigungen, das Atmen, das Innehalten oder Stocken des Atems, das Klopfen an die Tür. Am Flügel be­ gleitet ein Spieler diesen Abend musikalisch, dies scheint manchmal fast zu präsent, zu durchgehend, bis am Ende die Klaviatur ausgebaut an der Bühnenrampe liegt und der Pianist unaufhörlich weiter spielt. Wir sehen die Musik, doch hören können wir sie nicht mehr. Sie spielt weiter in unseren Köpfen und umsonst sehnen wir uns nach ihrem hörbaren Klang, nach dieser Erleichterung. Wir verlassen das Theater, gehen nach Hause und nehmen die wertvolle Erinnerung an eine ungewöhnliche Aufführung oder besser, vielleicht Performance mit. Und die verstörende Erinnerung an Menschen. Für die weitere Arbeit wünschen wir von Herzen Kraft und Mut. Herzlichen Glückwunsch an die Marburger Theaterwerkstatt.
Crescentia Dünsser (Intendantin des Neumarkttheater, Zürich)