Zwischen massigen Rohren brodelt in einer Bühnenecke kochendes Wasser. Auf der anderen Seite ein Aquarium. Die Bühne ist übersät mit Blumenvasen. Auf eine runde Fläche über der Bühne hagelt ein Dia-Gewitter unterschiedlichster, scheinbar zusammenhangloser Motive. An der Rampe steht eine Frau in einem roten Mantel. Regungslos. Wartend. Ausharrend. Wie die Bilder bricht ihre Biographie über sie herein. Aus dem Off wird sie von einer konturlosen Stimme in Stichworten erzählt. Das Protokoll eines normalen Lebens. Vor uns steht Frau Mückert.
Aber wo befinden wir uns? In der Unterwelt? Unter der Welt? Unter der Oberfläche der Wirklichkeit?
Man könnte an David und Goliath denken und fragen, wie ein David entstehen kann? Ein David, in der Lage, dem Riesen Realität in die Augen zu zielen.
Doch zurück zu Frau Mückert. Sie stammt aus einer der kurzen Prosasequenzen von Alexander Kluge, die er unter der Überschrift „Die Ostertage 1971" veröffentlichte. Diese kurzen Episoden sind Illustrationen zu folgender Erkenntnis: ,,Die Ostertage 1971 erwiesen sich für viele Menschen als zu kurz, um in diesen vier Tagen ein Leben anzufangen, als Unterbrechung des Produktionsalltags aber als zu lang. Wenn die Produktion stillsteht, nehmen die Unglücke zu." Frau Mückerts Wunsch war, die ihr nach Abzug der Arbeit verbleibenden Körperteile, Nerven und Wünsche in einem kurzen Osterurlaub zusammenzusammeln. Sie plant, bis Dienstag erholt zu sein.
Ihr Hotel gehört einer Erbengemeinschaft, die sich über Neuerungen nicht einigen kann. Dies alte Hotel macht ihr einen Strich durch die Rechnung. Der dröhnende Wasserhahn ihres Zimmernachbars bringt sie Nacht für Nacht um den nötigen Schlaf. Doch der Zimmernachbar hat ein Recht darauf, seinen Wasserhahn zu bedienen. Andererseits empfindet Frau Mückert, ihr sei dadurch Unrecht geschehen. Darauf war sie nicht vorbereitet, wie sonst, täglich. Sie denkt plötzlich: ,,Für das Leben, das ich führe, könnte ich auch eine Dumme sein."
Es heißt: ,,Die Zeit heilt alle Wunden." Frau Mückert will das ändern. Sie verteidigt ihre frisch gewonnene Unzufriedenheit mit Klauen und Zähnen. Sie wird im Kontakt mit Kollegen und Freunden und deren Angeboten und Einladungen unversöhnlich. Hier beginnt das Stück.
fort kommen zeigt, das eine neue Orientierung Desorientierung voraussetzt. Umwege, Sackgassen, Nebenausgänge, Hintertüren brauchen Platz. Also macht sie reinen Tisch. Ihr neues Verlangen nach Gerechtigkeit erfordert eine Bewaffnung der Wünsche. Sie arbeitet an einem Trainingsprogramm zur Aufrechterhaltung ihrer Unzufriedenheit. Sie wird eigensinnig. Denn Eigensinn, so rechtfertigt sie sich vor sich selbst, ist Protest gegen die Enteignung der eigenen Sinne. Sie trainiert ihr Gedächtnis.
Und sie wirft die Bücher weg. Es waren die falschen, sie haben nichts genützt. Sie führt Kartei über unterschiedliche Variationen der Rache. Das Material hierfür liefern ihr die in der Stadtbücherei ausliegenden Tageszeitungen. Sie reißt die Seiten mit den vermischten Sensationen und Katastrophen heraus.
Sie entdeckt, daß in manchen Momenten Schmerzen ihr letztes persönliches Eigentum sind. Veranstaltungen, in denen öffentlich geweint wird, so wie man öffentliches Lachen inszeniert, gibt es nicht.
Frau Mückert verliert Freunde, die ihre unerwarteten Reaktionen eben nicht erwarteten. Aber sie sagt sich: ,,Irgendwann muß ich etwas tun, was ich wirklich will. Sonst weiß man das hinterher nicht mehr." Sie spürt in sich eine unbekannte ungeheure Kraft. Sie weiß aus Filmen, daß es diese Kraft auch wirklich gibt.
fort kommen ist nicht nur eine neue Art, sich mit den Widerständen, die in den Wünschen und Träumen verborgen sind, auf der Bühne auseinander zu setzen. fort kommen ist auch einer der wenigen Versuche, die literarische Arbeit Alexander Kluges auch für das Theater zu gewinnen.
Nachbemerkung.
,,Solange die Welt so ist wie sie ist, ähneln alle Bilder von Versöhnung, Friede und Ruhe dem des Todes."
Theodor W. Adorno.