Das Riesenschiff, das Weltwunder, das Ungeheuer war ein schwimmender Palast und zugleich ein Mythos: Inbegriff des Fortschritts.
Die„Titanic", ein Projekt, das aus der Verbindung von amerikanischem Kapital und britischem Industriemanagement hervorging, galt als unsinkbar: ,,Nicht einmal Gottvater wäre imstande, diesen Kahn zu versenken."
Sie sank: In der 5. Nacht ihrer Jungfernfahrt binnen weniger Stunden bei klirrender Kälte, nachdem sie - kurz vor Mitternacht am 14. April 1912 - mit einem Eisberg kollidiert war.
1522 Menschen ertranken oder erfroren im Nordatlantik, weil der Luxusliner nicht mit einer ausreichenden Anzahl von Rettungsbooten ausgestattet war.
Die anschließenden Gerichtsuntersuchungen befaßten sich mit den vernachlässigten Vorsichtsmaßnahmen und der hohen Geschwindigkeit, mit der die „Titanic" entgegen Funkwarnungen das Treibeisgebiet kreuzte. Sie durchleuchteten die Beziehung zwischen dem Kapitän und dem (geretteten) Reeder, fragten nach den Verantwortlichen des Dampfers „Californian ", die die gesichteten Notsignale des untergehenden Schiffes unbeachtet ließen, sowie nach den Kriterien beim Besetzen der Rettungsboote.
Trotzdem konnte die Katastrophe nie endgültig und befriedigend erklärt werden. Als Chiffre für den Weltuntergang lebt sie weiter.
1969 schreibt Hans Magnus Enzensberger während eines längeren Aufenthaltes in Cuba ein Gedicht mit dem Titel „Der Untergang der Titanic". Von dort abgeschickt, geht es in einem Postsack nach Paris verloren. Enzensbergers Versuche, dieses Gedicht zu rekonstruieren, dauern 8 Jahre. Als er seine Arbeit 1977 in Berlin abschließt, ist das Werk auf 33 Gesänge und 16 Zwischentexte angewachsen und hat viele Erinnerungen an die Jahre und Orte seiner Entstehung in sich aufgenommen. Es sortiert Mythos und Aktenkundiges, reflektiert, rekonstruiert, vermutet, behauptet, beleuchtet - von oben und unten - das Geschehen auf der Titanic. Es kümmert sich um die Passagiere der verschiedenen Klassen. Um die des Oberdecks, deren Glaube an die Unsinkbarkeit ihrer Titanic auch bei schon nassen Knöcheln ungebrochen ist und die sich - in der Inszenierung großzügig mit Platz ausgestattet - nach dem „federleichten Aufprall" mit makabren Gesellschaftsspielen vergnügen und bei Portwein über den Untergang philosophieren. Und um die des Zwischendecks, die - auf drei hölzernen Kisten (,,zu nah, um einander zu lausen, zu stillen, zu prügeln") - nicht in der Lage sind, die inneren und äußeren Barrieren zu durchbrechen. ,,Sie machten Platz, respektvoll, und warteten bis sie versunken waren."
Enzensberger fragt in seinen Texten nach den Stimmungen, den Hierarchien, den Toten und Überlebenden, nach Gemälden, Temperaturen, er hört auf Geräusche und Zwischentöne, er kümmert sich um die Funksprüche, um die Menues, um die Wasserleichen, er „sammelt sie auf, die Wasserleichen, aus der schwarzen eisigen Flüssigkeit der verflossenen Zeit."
Und er sucht nach dem, was zurückbleibt, nach Trümmern und Resten, den „sattsam bekannten Überresten der Vergangenheit" - in Cuba, in der Bundesrepublik; genauso wie er Verbindungen sucht und schafft zur Gegenwart, zu Utopien und Hoffnungen - untergegangenen und bestehenden - in Cuba, in der Bundesrepublik, im Kopf.
Hoffnungen - trotz des Verlustes konkreter Utopien.
Hoffnungen - trotz des Unterganges im Kopf
,,Auch der Mensch. dem das Wasser bis zum Hals steht, kann seinen Kopf noch benutzen: zum Denken, nicht nur zum Schreien."
„Der Untergang der Titanic" - eine Komödie von Hans Magnus Enzensberger gespielt von der Marburger Theaterwerkstatt.